Der Film meines Lebens

Neulich hat mein wunderbarer Onkel Rainer mir eine DVD mit seinen alten Super 8 Filmen aus den 70ern und 80ern geschickt. Da waren wir – alle zusammen im Urlaub in Holland, kurz vor der Scheidung meiner Eltern. Meine Welt war noch in Ordnung. Ich hüpfte strohblond und unbekümmert durch die Wellen, wir lagen auf Luftmatratzen und spielten am Strand.

Dann eine Szene auf einem niederländischen Wochenmarkt. Mein Bruder, Mama und ich vorne am Marktstand. Dann ein Schwenk auf meinen Vater, ungefähr so alt wie ich heute. Da steht er, abseits, Hand in der Hüfte. Gelangweilt. Und mir schoss direkt durch den Kopf: “Der will da gar nicht sein.”

Ich spulte nochmal zurück. Ganz klar. So wie der da stand, Kameratasche umgehängt, schweifender Blick, auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit. Er kam mir vor wie ein Tier, das in Bedrängnis geraten ist und einfach nur noch weg will. In den restlichen Szenen meine Mutter, die sich darum kümmert, dass wir immer alles dabei haben und gut versorgt sind. Und mein Bruder, der Buden für mich baut, alles organisiert und mich beschützt, wenn sie doch umfallen.

Selten hat mich etwas so von den Füßen gefegt. Ich konnte nach mehr als 32 Jahren das erste Mal wirklich verstehen, was das Problem meiner Eltern gewesen war. Denn als Scheidungskind ist es ja so: Man erfährt niemals, aber auch wirklich niemals die volle Wahrheit. Mein Vater hat eine Version – und es ist sehr schwierig für mich, die anzuhören. Meine Mutter hat eine ganz andere. Die verstehe ich besser, aber die ganze Wahrheit ist es glaube ich auch nicht.

Zu sehen, wie unbeteiligt mein Vater abseits steht, spiegelt genau die Rolle, die er in meinem Leben eingenommen hat. Er ist auf seine Weise da, aber trotzdem nicht wirklich greifbar. Immer auf dem Sprung, nie bereit sich festzulegen. Das Leben funktioniert nach seinen Regeln. Alles andere ist schwierig.

Mein ganzes Leben lang habe ich mich gefragt, warum das, was ich bin, eigentlich nicht gereicht hat für ihn. Ja, so ist das mit uns Scheidungskindern. Wir denken, wir sind Schuld. Ein bisschen wie die Frauen, die von ihren Ehemännern geschlagen werden. Denn eigentlich sind wir nichts anderes – auch uns nimmt man die Unbekümmertheit, die Freude und das Urvertrauen.

Und trotzdem: Ich werfe meinen Eltern nichts vor. Sich zu trennen war nicht nur für sie richtig, sondern auch für mich. Ein Vater, der nicht mit ganzem Herzen bei uns sein will, hätte mich todunglücklich gemacht. Und ein bisschen kann ich ihn sogar verstehen. Auch ich bin ja immer mit einem Fuß aus der Tür, wenn mir Dinge zu eng werden. Mich Menschen bedrängen. Mehr von mir wollen, als ich zu geben bereit bin.

Ich habe begriffen, dass ich nur deshalb weiter unbekümmert durchs Leben springe, weil ich eben nicht mit Dir aufgewachsen bin, Papa. Ich konnte mich nicht jeden Tag auf Dich verlassen, aber heute kann ich Dir sagen, dass das nicht schlimm ist. Ganz im Gegenteil. Du hast gemacht was für Dich richtig war. Und deshalb konnte ich werden, was ich heute bin. Eine Frau, die ihr Herz auf der Zunge trägt und sich mehr und mehr traut, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Und dafür Papa, danke ich Dir.

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