Wieso nehmen wir unsere eigenen Bedürfnisse nicht ernster?

Meine Leserin Jeannie hat mir neulich folgende Mail geschrieben:

“Liebe Svenja,

seit unsere Tochter auf der Welt ist, frag ich mich oft, wie ich mit dem Thema Verwandschaft und Zeit umgehen soll. Meine Schwägerin tut mir definitiv nicht gut. Sie ist eher die vorlaute Frau, die alles loswird, was ihr nicht passt. Ohne Kind war ich noch eher Freundin, jetzt als “auch Mama” wendet sich das Blatt und entweder bekomme ich tausend Ratschläge oder Vorwürfe, warum wir uns nie melden, warum ich  immer so schnell gehe (weil mein Kind müde war und schon geschrien hat) etc. Wie gehst du mit sowas um, wenn Menschen, die dir absolut nicht gut tun, in der Verwandschaft sind und leider auch noch in der Nähe wohnen?

Deine Jeannie”

Jeannies Frage haben mir schon viele gestellt. Doch die eigentliche Frage ist ja nicht “Wie gehe ich mit meiner nervigen Verwandtschaft um?” sondern eben die Überschrift dieses Posts: “Wieso nehme ich meine eigenen Bedürfnisse nicht ernster?” Und die Frage stelle ich mir selbst oft genug.

Zum Beispiel neulich, als die Bedienung unserer Stammwirtschaft an der Ecke (klassischer bayerischer Gasthof, die Kinder bestellen Spätzle mit Soße für 3,50 und alle sind glücklich) auf mich zustürzte und mich umarmte. Nur dass ich sie eben nur entfernt kenne und mir das gleich viel zu nah war. Ohne Punkt und Komma sprach sie auf mich ein, notierte meine Telefonnummer (Wir MÜSSEN uns treffen) und war einfach nur lästig und indiskret. Als das Essen kam und sie sich just in dem Moment zu mir auf die Bank drängte mit der Frage “Und, hast Du Weihnachten selbst gekocht” war ich immer noch sprachlos. Oder zwei Tage später, als der Trainer im Fitnesstsudio mich umarmt, um mir ein frohes neues Jahr zu wünschen, mir dabei ohne Ansage an den Bauch fasst und sagt: “Was ist denn das?” “Weihnachten” habe ich gesagt – und anstatt ihm zu antworten: “Sag mal Alter, geht’s noch?” bin ich weitergegangen. Und habe mich den ganzen Abend schlecht gefühlt.

Ja, auch mich trifft es manchmal unvorbereitet und auch ich habe dann NICHT immer die richtige Antwort parat. Wann mir das passiert? Wo ich doch eigentlich ziemlich schlagfertig bin? Wenn ich denke: “Das hast Du jetzt nicht gesagt”. Wenn jemand Grenzen überschreitet und ich von meiner Erziehung (In solchen Momenten sagt man besser nichts, der Klügere gibt nach) keinen ZENTIMETER loskomme.

Zurück zu Jeannie, denn die hat es schlechter getroffen. Ich kann dem Trainer nächstes Mal mit etwas Abstand sagen: “Noch einmal und ich schlage Dir eine blutige Nase.” Oder so ähnlich. Und wenn die Bedienung anruft, gehe ich einfach nicht dran. Oder beide lesen eh meinen Blog, dann brauche ich gar nichts mehr erklären. Das wäre mir eigentlich am liebsten. Und warum? Weil Erziehung prägt.

Liebe Jeannie, wenn Du Dich also

– immer wieder mit Menschen umgeben musst, die Dir nicht gut tun

– immer wieder in einer Situation befindest, die Dir nicht gut tut

UND DU TROTZDEM NICHT SAGST, WAS DU DENKST – dann bist Du vielleicht auch so erzogen, wie ich. Dass wir alle unserem “Stamm” gefallen wollen, darüber habe ich in meinem Post “Eine Frage des Status” schon eimal ausführlich geschrieben. Aber bitte nicht um jeden Preis – und vor allem nicht dauerhaft und auf Kosten unserer Bedürfnisse.

Also: Was kann Jeannie tun, wo sie sich weder ihrer Schwägerin noch der Situation völlig entziehen kann? Sie kann sagen was sie denkt. Freundlich und bestimmt. Als Ich-Botschaft. Wie das geht? Indem sich Jeannie zuerst einmal klar macht, in welchem Dilemma sie steckt:

1.) Was schätzt Jeannie an ihrer Schwägerin nicht? Die ewigen Ratschläge und Vorwürfe.

2.) Wieso mag Jeannie die Ratschläge und Vorwürfe ihrer Schwägerin nicht? Sie hat das Gefühl, dass diese vorlaut ist und Grenzen überschreitet.

3.) Wieso sagt Jeannie ihr das nicht? Weil sie das Gefühl hat, damit unhöflich zu sein.

Aber damit liebe Jeannie, ist jetzt Schluss. Beim nächsten Mal, wenn Deine Schwägerin etwas sagst, was Dir gegen den Strich geht, sagst Du ihr das. Hier sind Deine neuen Sätze:

Wenn ein ungebetener Ratschlag kommt: Du es ist sehr nett von Dir, dass Du Dir da Gedanken gemacht hast und mir einen Ratschlag gibst. Nur ich habe mir dazu auch Gedanken gemacht und mache das so, weil…und ich werde das auch weiterhin so machen.

Wenn ein Vorwurf kommt: Ich verstehe, dass Du das so empfindest, nur ich empfinde das ganz anders.

Wenn das “Du meldest Dich nie”-Ding wieder kommt, dann sagst Du: Ich möchte mich im Moment mehr auf unsere kleine Familie konzentrieren, ich merke dass wir das alle brauchen.

Oder zusammengefasst: Sprich NICHT mit Deiner Schwägerin, als wäre sie der Feind. Sprich mit ihr wie mit einem Freund. Stehe zu Deinen Werten und Prinzipien. Mach Dir die Mühe und nimm Dir die Zeit, ihr zu erklären, warum Du gewisse Dinge anders siehst. Du darfst auch ruhig sagen, dass es bei euch zuhause auch so war oder dass sich das für Dich und Deinen Mann eben genau richtig anfühlt. Trau Deiner Schwägerin zu, dass sie dazulernen kann – und dass sie wachsen kann. Wie soll sie wissen, was Du alles denkst und empfindest, wenn Du es ihr nie mitteilst? Versuch, die negativen Gedanken mal eine Zeit auf Eis zu legen – ich versteh, dass Du gute Gründe hast genervt zu sein. Aber sicher ist Deine Schwägerin auch nicht so geworden, wie sie heute ist, weil bei ihr immer alles toll war. Da klingt schon viel Verbitterung mit, als wäre sie gar nicht mehr so offen das Anderssein von Menschen zuzulassen – dabei ist doch gerade das das Spannende.

Vielleicht kannst Du ihr ein bisschen dabei helfen, zu sehen, dass es auch andere Herangehensweisen gibt. Vielleicht kannst Du ihr helfen, ihre Füße von ihrem Stück Küste zu lösen und ein bisschen mehr Ozean kennen zu lernen. Solange Du von Herzen sprichst, höflich und respektvoll bleibst und das Ganze nicht in “Wer liegt richtig und wer falsch” umschlägt, kann es sein, dass ihr beide dadurch ganz viel lernt. Aber dafür musst Du Dich jetzt erstmal was trauen und losschwimmen.

In diesem Sinne

Deine Svenja

6 Kommentare

  1. Super, und ich habe mir angewöhnt, das aber durch ein nur zu ersetzen.
    Probier es mal aus, die Bogen drei Sätze anstatt aber ein Nutzung verwenden.
    Ein aber wirkt manchmal mehr konfrontativ, ein nur drückt das gleiche auf eine feinere Art aus…

  2. Sorry, mein IPad…ich versuch’s noch einmal:

    Ich meinte, probiere es mal aus, bei den drei obigen Sätze anstatt “aber” ein “nur” zu verwenden.

  3. Toller Post, Svenja!
    Manchmal überkommt es mich und ich sage was ich denke (Klassiker: wenn sich mal wieder jemand an der Kasse vordrängelt, oder Taxifahrer nach dem Motto fahren “Taxi vor allen anderen” oder “Mann vor Frau”).
    Es bringt meist nur nichts. Diejenigen die das machen, haben weder das Benehmen noch die emotionale Intelligenz mit Gegenwind oder Kritik umzugehen und zu verstehen, was den anderen bewegt.
    Dem Frustabbau dient es auch nicht. Aber es hilft Bekannten die eigene Grenze aufzuzeigen und im schlimmsten (?) Fall sich zu distanzieren.
    In dem unglaublichen Fall deiner Bedienung und deines FItnesstrainers ist wahrscheinlich auch das Problem, dass Du für viele zur (virtuellen) Freundin geworden bist und sie nicht verstehen, dass das umgekehrt nicht so ist oder sein muss oder Du das willst.
    Mach weiter so!

  4. Ich kann deinen Post nur unterstreichen.Auch ich war schon oft(!!)in ähnlichen Situationen, in denen ich gemerkt habe:’Also DAS tut mir jetzt wirklich nicht gut….so gar nicht…..’Vor einigen Jahren noch, habe ich geschluckt und es über mich ergehen lassen.Aber mittlerweile schaffe ich es immer öfter zu sagen oder zu zeigen, dass nur etwas nicht gut tut. Den natürlich ist es nicht richtig andere zu verletzen oder selbstverständlich das ich andere respektvoll behandle, aber genau die gleichen Rechte habe ich auch. Und wenn jemand das nicht beachtet, er es nicht bemerkt oder es ihm gar egal ist, dann muss ich ihn eben direkt darauf hinweisen um evtl. Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Denn sonst kann ich auch nicht erwarten das sich etwas ändert…..Punkt! ;-)

  5. Liebe Svenja,

    beruhigend, dass es so vielen anderen ähnlich geht , sonst zweifelt man am Ende nur an sich. Ich finde, dass ich mich besser abgrenzen kann, seit ich Kinder habe – bei Freunden und Bekannten klappt das ganz gut. Bei Fremden noch viel besser, bei der Familie sieht das schon anders aus. Da finde ich es recht schwierig. Ich suche da auch noch nach einem Rezept, sich da nicht immer nur zurückzunehmen, um des lieben Friedens wegen..

    Danke für den tollen Post!
    Deine Katja

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Deine Daten in der Kommentarfunktion werden nur für diese verwendet. Weitere Informationen findest du in der Datenschutzerklärung.