Verstehen

Ihr Lieben,

ich bin nur ein ganz normaler Mensch. Mit einer Familie, einem Beruf und ja, auch mit jeder Menge Empathie und Verständnis. Das einzige, was bei mir anders ist, als bei vielen anderen um mich herum, ist: Ich habe eine Reichweite.

Jetzt könnte ich schreiben: “Und die zerreißt mir manchmal das Herz.” Mache ich aber nicht, denn das hier soll kein Jammerpost werden – sondern ein informativer Post.

Viele Menschen denken, dass ich mit dieser Reichweite ein Sprachrohr für etwas sein kann. Jemandem helfen kann, der in Not ist. Oder bedürftig. Und in der Theorie hört sich das ja auch erstmal gut an. Deshalb nehme ich euch jetzt einmal kurz mit in meinen Maileingang.

Da lagen in den letzten Tagen

a) die Bitte einer Mutter, ihr zu helfen. Ihr Sohn hat Autismus und braucht einen speziell ausgebildeten Hund. Aber der kostet viel Geld.

b) die Bitte einer Leserin für eine tolle Frau, deren Sohn nach einem Schlaganfall im Mutterleib behindert ist und Unterstützung braucht und

c) die Mail einer Leserin, deren Vater dringend eine Knochenmarkspende braucht. Sie bittet mich auf die DKMS aufmerksam zu machen. Ich habe mich schon in meinen Zwanzigern registrieren lassen – ist keine große Sache und ihr könnt damit Leben retten.

Bis auf die Sache mit der DKMS kann ich nicht helfen. Denn: Wie sollte ich auswählen, wen ich unterstütze? Ist der autistische Junge wichtiger als der mit dem Schlaganfall? Oder andersherum? Ihr seht: Das geht nicht.

Außerdem bin ich einmal mit einer virtuellen Hilfsaktion auf meinem Blog übel auf die Nase gefallen. Seitdem helfe ich ausschließlich bei Aktionen hier vor Ort, wo ich sehen kann, wer meine Hilfe braucht. Wo ich die Geschichten dahinter kenne und begleiten kann.

Ich verstehe total, dass ihr in mir eine Chance seht. Die Wahrheit ist, dass mich diese Mails oft sehr belasten. Denn auch wenn ich weiß, dass ich nicht helfen werde, schaue ich mir die Anfragen trotzdem an. Denn ich bin ein Mensch und dazu noch eine Mutter, was mich für all das gefühlt nochmal empfänglicher macht. Und wie soll man eine Nachricht ungelesen löschen, in die jemand so viel Hoffnung legt? ICH kann das jedenfalls NICHT. Und ich will das auch gar nicht können.

Aber: “Svenja, kannst Du mir helfen?” hört nicht in meinem Maileingang auf. Es geht auf den sozialen Medien weiter. Ihr schreibt mir auf FB und fügt mich Gruppen hinzu.

Wie ich diese Funktion hasse. Schwups bin ich in einer Gruppe und soll eine Meinung dazu haben. Habe ich aber oft noch gar nicht und vor allem – ich schreibe das ja immer wieder – bin ich auch kein sehr politischer Mensch.

Aus diesem Grund nehme ich diesen Post jetzt mal als Chance, euch etwas zu zeigen, was IHR vielleicht nicht so auf dem Schirm habt. Etwas was für EUCH vielleicht neu ist. Mit dem ihr euch nicht auseinandersetzen konntet – oder wolltet.

Denn es ist nicht nur so, dass meine Leser etwas von mir wollen (und jetzt kommt der Part, wo ihr merkt, warum das hier kein Jammerpost ist!), sondern auch so, dass sie mir wahnsinnig viel beibringen.

Wenn ich euch auch nicht bei euren Einzelschicksalen helfen kann, so kann ich doch dazu beitragen, dass ihr Dinge seht, die wichtig sind.

Manchmal mache ich das mit einer Kolumne, bei der ich euch in mein Herz blicken lasse. Weil mir etwas klar wird, ich für einen Wert einstehe oder eine neue Erfahrung gemacht habe. Und bei der ist mir ein Licht aufgegangen, das ich auch für euch anzünden möchte.

Und manchmal bitte ich euch – so wie heute – euch zu informieren. Für mich ist es total OK, wenn mir eine Leserin schreibt “Sorry, aber diese ganze Flüchtlingsnummer hängt mir echt zum Hals raus.”

Ich gehe davon aus, dass Du dann all die folgenden Infos kennst. ICH kannte sie nämlich NICHT. Ich wusste nur ungefähr,

a) wie es zu allem gekommen ist,

b) wie sich unsere Kultur für die Flüchtlinge anfühlen muss und

c) wie unmöglich und teils menschenverachtend sich manche Mitbürger mit ihren schnell dahergesagten Allgemeinplätzen gegenüber Flüchtlingen äußern.

Wenn ihr das auch nur ungefähr wisst, ist dieser Post eure Chance, das zu ändern. Denn das alles “ungefähr” zu wissen reicht nicht, wenn ihr für euch beansprucht, das Herz auf dem rechten Fleck zu haben.

Hier sind präzisere Informationen:

1.) So ist es zur Flüchtlingskrise gekommen. Ein Erklärfilm von sechs Minuten Länge. Danach habt ihr es ein für allemal verstanden und könnt mitreden. Danke an meinen Bruder fürs Teilen dieses Videos.

https://www.youtube.com/watch?v=RvOnXh3NN9w

2.) Manche Dinge sind so anders in unserer Kultur, dass sie für Flüchtlinge fremd wirken. Meine Leserin Kerstin hat einen Link zum Refugeeguide auf meiner Facebook Seite gepostet. Danke dafür, was für eine spannende Lektüre.

Bildschirmfoto 2015-10-31 um 06.21.19

“Herzlich willkommen in Deutschland! Diese Orientierungshilfe enthält nützliche Tipps und Informationen für das Leben in Deutschland. Angeregt wurde diese Orientierungshilfe durch Fragen, die viele Geflüchtete immer wieder stellen. Die Hinweise in dieser Orientierungshilfe sollten weder als Gesetze noch als bindende Regeln wahrgenommen werden. Die Menschen in Deutschland werden sich nicht immer verhalten wie hier beschrieben. Trotzdem sind die hier beschriebenen Verhaltensweisen für die meisten Menschen in den meisten Situationen üblich.”

Um nur eine rauszugreifen:

“Lächeln wird üblicherweise nicht direkt als Flirten interpretiert, auch dann nicht, wenn man mit Fremden spricht. Die Menschen versuchen normalerweise einfach nur freundlich zu sein.”

Es lohnt sich wirklich, den kompletten Guide zu lesen. Denn es stehen so viele Dinge darin, auf die ich nie gekommen wäre, dass ich zeitweise fast das Gefühl hatte: “Die müssen doch alle denken wir leben hier in einer riesengroßen Hippiekommune”. Wahnsinn, was da alles erklärt wird, weil es für die hier Schutz suchenden Menschen ÜBERHAUPT nicht selbstverständlich ist. Und wahnsinn, wie ich Deutschland, dass ich oft so spießig finde, plötzlich wieder als einen Ort der Freiheit begreifen kann.

3.) Danke an Christiane, für das Teilen dieser Sternkolumne. Um nur mal einen Satz zu zitieren, den ich sofort auf ein T-Shirt drucken lassen würde, wenn er nicht so lang wäre:

“Nicht wir haben ein Problem, weil wir in der Turnhalle kein Zirkeltraining machen können, sondern die, die in der Halle leben müssen.”

Ja, ja und NOCHMALS JA!

Das war jetzt viel Input für einen einzigen Blogpost. Aber wisst ihr: Wenn ihr immer wieder an mich herantretet und meine Empathie braucht, dann möchte ich manchmal auch an euch herantreten dürfen und an eure Empathie appelieren.

Lasst uns zusammen verstehen, was wichtig ist, um in unserem Leben einen Unterschied zu machen, der auf Liebe gründet.

In diesem Sinne

Eure Svenja

8 Kommentare

  1. Wow! Ich binbeeindruckt! Habe mich gerade durch alle links gelesen und noch einiges Neues erfahren! Vielen Dank, liebe Svenja, für die informative Zusammenstellung!
    LG Anne

  2. Vielen Dank für diesen Post!! Mal wieder sprichst du mir aus der Seele, gestern Abend nachdem ich wieder zig Horrornachrichten von vermissten Flüchtlingskindern etc hörte fühlte sich mein Herz so dermaßen schwer an und ich schämte mich für derart viele Menschen… Ich habe mich in Deutschland immer so wohl gefühlt, bin sicher und behütet aufgewachsen und dachte dass wir langsam aber sicher diese “Ausländerfeindlichen” Vorurteile loswerden würden. Ich fühle mich im eigenen Land nicht mehr sicher, auch wenn es sich blöd anhört, aber nicht wegen den Flüchtlingen, sondern wie sich Menschen in meinem Umfeld entwickeln und unterhalten und wieder Sprüche wie vom zweiten Weltkrieg auftauchen. Das ist so traurig, weil ich der Meinung bin, dass kein einziger Mensch auch nur einen Hauch von Besitzansprüchen eines Teils der Erde haben sollte!
    Ich bin wirklich froh für Deinen Post, Danke

  3. Liebe Svenja,
    ich lese hier bisher nur im Stillen mit, aber an dieser Stelle möchte ich einfach mal ein großes DANKE sagen. Ich arbeite als Lehrerin und die unvorstellbar komplexe Situation, die ganze aktuelle Lage mit Schülern zu besprechen, Fragen teilweise gemeinsam zu beantworten und viele Unklarheiten auszuhalten, das ist teilweise sehr schwer. Und dazu höre ich im privaten Umfeld (wie so viele derzeit) oftmals Äußerungen, die mich an die Decke gehen oder fragen lassen, ob Empathie heutzutage eigentlich eine Fremdwährung ist, über die keiner mehr verfügen will. Daher ist es einfach unglaublich schön, wenn gerade jemand mit deiner Reichweite einfach auf das aufmerksam macht, was – eigentlich- selbstverständlich sein sollte, Informationen einholen, sie auch mal abgleichen mit anderen Quellen, Wissen vergrößern und dann erst einen Standpunkt finden. Dafür ein großes Danke, denn es macht immer wieder Mut, Menschen zu begegnen, die erst einmal den Menschen sehen, um den es geht.
    Viele Grüße und einen schönes Wochenende! Rebecca

    1. Das ist für mich jetzt ein ganz großes Lob, das mir ganz arg wertvoll ist und dass ich ab jetzt in meinem Herzen trage. Vielen Dank dafür, dass Du gewartet hast, um genau an dieser Stelle von leise zu laut zu wechseln ;-)

  4. Mir persönlich liegen genau drei Dinge sehr am Herzen, nämlich:
    1. Egal, welche Hautfarbe, Haarfarbe, Herkunft wir haben…Menschen sind wir alle und Gefühle haben wir auch alle…sogar die gleichen…
    2. Den Luxus, sich seiner Meinung zu enthalten, sollten wir in Zeiten wie diesen ganz schnell vergessen…man hat schon einmal Mitte des 20. Jh. gesehen, wo das hinführen kann! Wenn nicht der halbwegs intelligente Mensch aufhört, sich mit sich selbst zu beschäftigen und sich der Stimme zu enthalten, wer wird dann gehört werden? Wer wird Entscheidungen treffen?
    3. Ist es nicht vielmehr auch so, dass ein gewisser Wohlstand auch eine große Verantwortung mit sich bringt? Man sollte sich dringend fragen, was denn im Leben wirklich zählt und wenn man anfängt darüber nachzudenken, kommt man ganz schnell zu dem Ergebnis, dass es eigentlich doch recht wenig ist, dass man wirklich braucht!? Warum sind wir nicht bereit, ein Stück zusammen zu rücken und Menschen, deren Länder auch durch unseren Wohlstand in Schutt und Asche liegen, etwas von unserem Wohlstand aber eben vor allem Schutz und Sicherheit zu gewähren? Wie würden wir als Eltern reagieren? Würden wir nicht auch unsere Kinder unter die Arme klemmen und versuchen, deren Leben zu retten? Ich schäme mich für meine Mitbürger, wenn ich Parolen wie die von Pegida und Co. lese oder höre und mich kotzt es tierisch an, dass die Medien denen immer wieder ein Plattform geben. “Bild dir deine Meinung”, oder was? Ich arbeite im Einzelhandel in einem Brennpunktviertel einer Kleinstadt und was ich mir da jeden Tag so anhören muss, treibt mir täglich die Tränen in die Augen. In den letzten Wochen ist es immer öfter vorgekommen, dass wildfremde Menschen mich direkt bei der Arbeit ansprechen und sich über die vielen “Ausländer” aufregen. Ich kann mich dann kaum beherrschen und bin immer wieder erschrocken, wie man behandelt wird, wenn man nicht in dieses Horn bläst, sondern sich klar auf die andere Seite stellt. Nämlich die Seite der Mutter und des Vaters, die für das Überleben ihrer Familie kämpfen und es schon allein bis hierher geschafft haben! Hut ab und Gott sei Dank! Und schämen sollten wir uns auch, weil immer noch so viele bei dem Versuch, sich und ihre Familien zu retten, umkommen. Es ist sicher keine Lösung, wenn alle nur hierher geholt werden und sich an der Situation im Heimatland nichts ändert…ich fürchte nur, dass sich dafür zuerst in den Köpfen aller Menschen etwas ändern muss. Demut ist eine Tugend, die nicht nur in der Religion einen Stellenwert bekommen sollte. Und Empathie, dazu ist heut kaum noch einer in der Lage…wie auch, bei dem Scheiß, den sich unsere Kinder und Jugendlichen am Computer und im TV reinziehen. Wie immer hängt alles zusammen…
    Den Mund halten, den Kopf in den Sand stecken oder davonrennen ist keine Lösung…also was nun? Heute Morgen auf dem Weg zum Bäcker sind mir ein paar mit Kreide gemalte Parolen aufgefallen undd die fand ich ganz passend… “Angst frisst Hirn” zum Beispiel. Also ganz schnell Herz und Hirn eingeschaltet und den Mund an der richtigen Stelle aufgemacht!

  5. Wunderbarer Post, Svenja!
    Vielleicht darf ich von der anderen Seite der Welt noch eine Kleinigkeit hinzufügen: Deutschland genießt ein enorm hohes Ansehen hier in Australien. Australien (und ich bin mir sicher auch der Rest der Welt) ist beeindruckt, mit welchem Engagement, Pragmatismus und Empathie Deutschland die Flüchtlingsthematik angeht. Hier höre ich nur lobende Worte über die Hilfsbereitschaft der Deutschen, über Angela Merkel und ihren Einfluss auf die europäischen Nachbarn, über die Verantwortung, die auf Deutschland als favorisiertes Fluchtziel lastet und die Art und Weise, wie es mit dieser Verantwortung umgeht.
    Und ja, das ist von außen betrachtet. Ich weiß, dass es viel Unruhe gibt, die Organisation der ganzen Situation immer noch hinterher hängt, Rechtsradikale mal wieder ihre Chance wittern, es scheinbar keine Lösung gibt, und und und. Aber vielleicht hilft es, ab und an den Kopf mal wieder über den Tellerrand zu stecken und zu sehen, was ihr da eigentlich gerade leistet. Ihr macht da einen verdammt guten Job und ich bin wahnsinnig stolz auf euch!

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