Menschlichkeit ist die beste Strategie

Mit manchen Posts muss ich schwanger gehen. Drehe Gedanken und Sätze hin und her. Spreche mit anderen Bloggern, mit Freundinnen und gehe mit offenen Augen durch die Medienwelt. Suche nach Hinweisen, die mein Thema weiterbringen.

Aber diesmal war etwas anders. Schließlich blogge ich schon so lange, dass ich für die Branche ein Bauchgefühl entwickelt habe. Ich sehe Tendenzen und Strömungen, bis sich daraus ein Muster ergibt. Oder besser gesagt: Ich sehe GIFs und Ministories und Infografiken und 30 Sekunden Videos. Und denke: Wo ist der Inhalt hin? Wo ist die Story?

Glücklicherweise schickte mir Kathi diese Woche ein Interview mit Frank Schätzing, der mir rational erklärt, was ich erstmal nur spüre.

“Modernes Erzählen bewegt sich fort vom voluminösen Informationspaket hin zu kleineren Informationsfraktalen. Das neue Kino etwa ist die Serie. Eine Endlosgeschichte in Staffeln, von der ich immer so viel konsumiere, wie ich Lust habe – wann, wo und wie ich will. Das verändert die dramaturgischen Gesetzmäßigkeiten des Erzählens fundamental. Storys von heute sind eher wie lebende Mosaike. Sie entstehen in Social Networks, in Tweets. Viele junge Leute bevorzugen dabei immer kürzere und fragmentierte Erzählungen, um möglichst viele Geschichten simultan in möglichst kurzer Zeit zu erleben.”

Nun bin ich a) nicht mehr jung und b) genau aus dem Grund nicht auf Twitter, dass die erlaubte Zeichenanzahl mir zu kurz ist. Seit ich in meinen Zwanzigern und frühen Dreißigern als Werbetexterin gearbeitet habe, ist mir der begrenzte Raum für Wörter und Gedanken ein Gräuel. Immer wieder hörte ich in Briefings Sätze wie:

“Hier ist Platz für 32 Zeichen inklusive Leerzeichen. Da brauche ich eine knackige Headline. Und die Copy hat ungefähr 180 Zeichen. Das kriegst Du doch hin, oder?” Klar habe ich das hingekriegt, ich kann ja mit Worten. Aber Aussage, Nutzen und ein Text, der bewegt, brauchen mehr, als eine Besenkammer ohne Fenster.

Weiter auf der Suche, was mein Branchen-Bauchgefühl nährt, sehe ich John Mayer bei Ellen. Als Ellen über sein neues Album spricht und wie er seine Songs veröffentlicht, gerät sie ins Schleudern. Ich auch.

Ellen: “So your releasing how many…your releasing four…”

John: “I’m doing four songs at a time. I started realizing that twelve songs is a big ask for people now because of so much content. And when I started seeing, even me, like, my favourite acts would put like a record out and I would be like: “I can’t today. It’s too much music.” So I sort of decided I’d put four out at a time.”

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Nochmal. “Twelve songs is a big ask for people now”. Quasi eine Zumutung. Eine Überforderung. Etwas, was der Fan nicht mehr leisten kann.

Wo stehen wir also “contentsizewise”, wenn selbst musikalische Größen wie John Mayer mit ihrem Output experimentieren, weil sie das Gefühl haben, ihrem Publikum mehr Inhalt auf einmal nicht zumuten zu können?

Ich sag’s euch: Wir stehen da, wo es ganz schwierig wird. Wo das Eis dünn ist. Wo nur die überleben, die in der langen Form wirklich gut sind. Oder die, die spitz editieren. (On a side note: So jemanden habe ich neulich kennengelernt. In den Insta Stories witzig, talentiert, ein Brüller. Im echten Leben: couldn’t be more boring.)

Von mir gibt es keinen snack-bite-content. Auch wenn ich weiß, dass ich mir damit jede Menge Traffic durch die Lappen gehen lasse. Es gibt keine Insta Story darüber, wie ich mit meiner Tochter das Spielzimmer renoviere, in der ich im Endlosloop die Farbrolle in pastellgrün vor- und zurückrolle. Wenn ich eins genau weiß, dann dass eye-candy ohne Aussage keinen tieferen Nutzen bietet und keinen Leser emotional berührt. Funktioniert für einige Belange (Verkaufen,  Hype, Zielgruppen triggern) trotzdem, kann man einsetzen, macht dann auch Sinn.

Ich finde es sogar gut, dass Blogger auch auf visuelle Mittel setzen. Dass sie ihr eigenes (Achtung, Dinosaurierkommentar) MTV schneiden. Das MTV ihres Lebens mit Effekten und Soundtrack und allem. Und einige wenige können mich damit erreichen, weil sie mehr drauf haben, als nur das. Weil unter all dem visuellen Süßholz eine emotionale Message liegt, die ich spüren kann.

Denn truth told: Es braucht mehr als Sukkulenten, Vitra Chairs und Schaffelle. Manchmal denke ich: “Ob die alle in einer großen WG leben?”

Auch ich mag es hübsch haben daheim. Auch ich mag die schnellen Stories und die visual effects. Aber noch viel mehr mag ich Persönlichkeit. Unverwechselbarkeit. Zu wissen: Wenn ich auf diesem Blog mitlese, dann “erkenne” ich die Person. Und nehme was für’s Leben mit.

Meine stolzesten Bloggermomente sind, wenn ihr mir Jahre nach Veröffentlichung eines Posts solche Mails schreibt: “Dieser eine Artikel, den Du 2014 geschrieben hast, der hat mein Leben verändert.”

Warum schreibe ich gerade heute darüber? Weil sich etwas ändern muss, wenn nicht eine ganz tolle Sache (das Bloggen) auf ein ganz böses Erwachen zusteuern soll. Wo Sonne ist, stellen sich viele ins Licht. Das ist total OK – aber dann verdammt nochmal LEUCHTET AUCH. Und wartet nicht darauf, angestrahlt zu werden.

Bietet euren Lesern mehr als einen Look, bietet ihnen eure ganze Fülle. Eure Fragen und Zweifel, eure Talente und euer Glück. Das, was euch einzigartig macht und für irgendjemanden zur besten Freundin, besten Ehefrau, besten Partnerin und besten Mutter.

Vor ein paar Tagen habe ich mich mit einer Freundin zum Mittagessen am Flughafen getroffen und dabei diese Szene im Ankunftsterminal beobachtet.

Eine Gruppe von Familie und Freunden mit Hund und Partyhüten, die auf die Ankunft von “Benno” warteten, der offensichtlich lange weg war. “Welcome back, Benno” stand auf dem Plakat. Und “Lieber mit als ohne!” Da hat es bei mir Klick gemacht.

Die Zeit, in der es so wenige Blogger gab, dass unsere Leser wie eine Truppe von Freunden auf unsere Posts gewartet und jeden einzelnen freudig begrüßt, kommentiert und geteilt haben, ist vorbei.

Heute sind nicht DIE Blogger spannend, unverwechselbar und werden gelesen, die aus dem Flugzeug steigen und sich in die Arme ihrer Leser stürzen. Sondern die, die das Plakat halten. Die ihren Lesern ein warmes Willkommen bereiten und ihnen das Gefühl geben: Hier bin ich daheim. Hier ist jemand, der es gut mit mir meint.

Unverwechselbar heißt auch: Das zu machen, woran man glaubt und wohinter man steht. Ich habe mich nie darum geschert, dass “man” nur zwei Minuten Videos machen darf. Sondern einfach 30 Minuten lange Videos gemacht habe – ohne einen einzigen Schnitt. Und werde von Kunden heute genau wegen dieser Videos und meiner Kompetenz gebucht.

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Unverwechselbar heißt, die eigene Meinung auszudrücken, auch wenn das manchmal unbequem ist. So wie bei meinem Artikel aus dem Jahr 2012 über Kitas, der bis heute regelmäßig ellenlange Kommentare von euch bekommt. Und zwar nicht nur zustimmende, nette.

Mein Leben ist nicht immer stylish und camera ready. Meine Meinung nicht immer eure. Aber das ist nicht schlimm, denn bei mir menschelt es dafür. Und falls ich je eine Strategie hatte, dann war Menschlichkeit die beste. Beim Bloggen, im Leben und für den Rest meiner Tage on- und offline.

In diesem Sinne

Eure Svenja

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18 Kommentare

  1. sehr toll geschrieben. Und ich bin mir sicher, dass Du recht hast, auf dem richtigen Weg bist und nicht alle sich dieser schnellen, möglichst wenig Content bietenden Zukunft unterwerfen, sondern einen Text bis zum Ende lesen, ohne ihn nur zu scannen. Und noch dann noch das 30-minütige Video schauen. Ich glaube hierin liegt auch eine Zukunft für Blogs. Für Leser, denen ein Post die Woche, dafür ein guter, reicht. Für alle, die nicht täglich mit Nachrichten überhäuft werden wollen, es schon nicht mehr wahrnehmen, wegklicken. Ich denke, guter Inhalt und keine Penetration in allen Medien ist auch eine Zukunft. Wenn auch sicher der etwas langsamere Weg, wenn man erfolgreich sein will. Aber es geht. Danke für die Inspiration!

    1. Ich glaube auch, dass das geht. Und anstatt so viele Posts die Woche zu schreiben, folge ich auch lieber den Ratschlägen meiner Leserinnen und mache Aquarellkurse ;-) Ich hatte gestern so einen Spaß. Danke nochmal für die Empfehlung.

  2. Oh ja, die Aufmerksamkeitsspanne verringert sich immer mehr. Ich finde das auch besorgniserregend. Denn um in den Flow zu kommen, glaube ich, muss man etwas länger als ein paar Minuten machen. Und nicht ständig aufs Handy schielen.

    Und gerade deswegen bin ich so sehr davon überzeugt, dass die Welt Taijiquan/Tai Chi braucht. Das treibt michpersönlich bei meinem Blog an. Auch wenn ich ganz bewusst kürzere Artikel schreiben als in der Tai Chi-Welt üblich.

    Aber ich übe eine Form, die insgesamt ca. 30 Minuten dauert. Ne Halbe Stunde sich langsam im Raum bewegen nach einer vorgegebenen Choreographie, mit sich immer wieder anders wiederholenden Bewegungen und Nuancen.

    Das ist Konzentrationstraining und Meditation in Einem! Und ich weiß, dass das viele Leute nicht können, aber ÜBEN. Jede kann sowas ÜBEN.

    Und all die Tutorials und How-Tos suggerieren, dass man alles sofort können kann. Aber ich glaube, um wirklich zufrieden zu sein mit dem eigenen Können bedeutet auch, es eine Zeitlang nicht zu können. Das auszuhalten und das üben zu genießen. Das ist uns irgendwie abhanden gekommen.

    1. Das ist ein sehr schöner Gedanke Angelika, mit den Tutorials. Ich arbeite gerade an einem anderen Post – mich beschäftigt dieses Flow Thema und wie wir uns da verändern ja auch so sehr. In dem Rahmen würde ich Dich glaube ich gern mal zitieren und zu Dir verweisen. Würde Dir das natürlich vorher alles schicken und Dir vielleicht nochmal ein paar Fragen stellen. OK? Melde mich!

  3. Wenn ich einen schönen, langen Post von dir sehe, nehme ich mir einen Tee oder Kaffee und lese ihn wie ein Kapitel in einem Buch. Das liegt aber auch daran, dass du schreiben kannst. Bei anderen Bloggern verliere ich oft den Faden und denke huch what? Fass dich kurz!
    Ich versuche bei mir ein Mittelmaß zu finden, aber manchmal gehen auch mit mir die Pferde durch und dann werden es ü600 Wörter oder mehr. Das sind dann die Posts, die am meisten geklickt werden. Obwohl ich denke, dass die Leute vor Langeweile… doch wegklicken… Aber dieser eine große Post pro Woche bewirkt, dass die Leser, die sich identifizieren können, bei mir bleiben, seit Jahren. Für alle anderen gibt es die schnelle Nummer über Pancakes oder Yoga. Ich hoffe, dass ich so noch lange bloggen kann und gelesen werde. Ich drücke uns allen die Daumen!

    1. Liebe Doro, vielen Dank für Deine lieben Worte. Ich freue mich sehr darüber, nicht nur aber auch weil ich immer wieder bei Dir mitlese. Und zwar bei den langen Posts. Und den persönlichen – ich sag nur Californication. Been there, done that. Am here now ;-) Auch ich war schon einige Male verwirrt, dass manche Blogger ihre Leser im Text nicht führen. Aber das hat wohl viel mit Handwerk und Struktur und Dramaturgie zu tun. Bei mir war das Übung, Übung, Übung. Bei Dir, schätze ich mal, auch. Oder? Jedenfalls schätze ich Deine Unverblümtheit und mag Deinen Themenmix. Svenja

  4. Liebe Svenja,
    der Groupie in mir spricht wieder. ich muß Dir jetzt leider um den Hals fallen.
    Und den dicken Stift rausholen und alle deine 1148 Worte unterstreichen.
    Ich bin der Meinung, wir müssen wieder zurück zum Content mit Inhalt. Alles andere verschwimmt in einer nebeligen, langweiligen Suppe.

    Liebe Grüße
    Suse

  5. Liebe Svenja,
    ich komme mir manchmal als Leserin richtig veralbert vor, wenn der Post plötzlich abbricht, die Geschichte allerdings noch nicht rund ist… Das liegt aus meiner Sicht auch am Alter, ich habe ein anderes Bedürfnis nach Inhalt und Qualität als noch von 10, 15 Jahren. Ja, zu einem guten Post gehören schöne Fotos, vor allem aber Persönlichkeit, Reife, Intelligenz und Schreiben-Können, das sehe ich auch so. Und das bringen nicht alle BloggerInnen mit. Und offenbar wollen oder brauchen das nicht alle Leser. Mir hat Dein Post Mut gemacht, mal wieder eines der persönlichen Textfragmente fertig zu machen, die in meinem Entwurfsordner schlummern.

    Herzliche Grüße aus Leipzig von Anja

    1. Liebe Anja, ich kann das auch nicht immer – oder bin nicht immer in der Stimmung dazu. Aber ich möchte es viel mehr machen, weil nur dann bin ich richtig zufrieden nach meinen Posts. Hat halt auch für den, der schreibt, eine ganz andere Qualität, oder? Liebe Grüße von Bloggerin zu Bloggerin, Svenja

  6. Selten einen Artikel gelesen, der es so gut auf den Punkt bringt was ich schon lange denke! Danke für Deine Zeilen und diesen Input! Ich kann vorallem mit all den (Insta)stories absolut nichts anfangen – Content Overload wo man nur hinschaut.
    “Wo Sonne ist, stellen sich viele ins Licht. Das ist total OK – aber dann verdammt nochmal LEUCHTET AUCH. Und wartet nicht darauf, angestrahlt zu werden.” – grandios! :)

    Beste Grüße, Aileen

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